Potenziale erkennen – Zukunft gestalten

28.09.2016

Themen und Impulse aus dem II. Bundesweiten Fachkongress Kinder- und Jugendarbeit 2016 an der TU Dortmund

 

 1. Kongressthemen

14 Jahre nach dem ersten fand nun wieder drei Tage lang ein Bundeskongress zum Thema Kinder- und Jugendarbeit in Deutschland statt. Hier trafen sich Sozialpädagogen und Wissenschaftlerinnen, Bildungsreferenten und Verbandsvertreterinnen sowie Jugendamtsleiter und Politikerinnen zum fachlichen Austausch über die aktuelle Lage der Kinder- und Jugendarbeit in ihren zahlreichen Facetten und Ausprägungen in der Bundesrepublik. Das Motto lud dazu ein, aus einer Bestandsaufnahme und Zeitdiagnose heraus die vorhandenen Potenziale der Kinder- und Jugendarbeit zu erkennen und herauszufinden, um davon ausgehend Konzepte, Ideen und Strukturen zu entwickeln, die den heutigen Situationen von Kindern und Jugendlichen entsprechen und auch in Zukunft tragfähig sind. Ausrichter war der Forschungsverbund der TU Dortmund mit dem Deutschen Jugendinstitut, versammelt waren insgesamt rund 1.400 Personen aus ganz Deutschland. Für die Arbeitsstelle für Jugendpastoral im Bistum Magdeburg waren Stephanie Müller und Jonas Borgwardt vor Ort, die ganz unterschiedliche Vorträge, Symposien und Projektforen besuchten und dennoch nur einen Teil der rund 130 Veranstaltungen wahrnehmen konnten.

 

Quo vadis, Kinder- und Jugendarbeit?

Im Auftakt des Fachkongresses stellte Prof. Dr. Thomas Rauschenbach als Leiter des Forschungsverbundes die Frage, welche Kinder- und Jugendarbeit in unserer gegenwärtigen Gesellschaft benötigt wird. Angesichts der wachsenden kulturellen Heterogenität des Jugendalters und der sich stärker auf den Raum Schule fokussierenden Sozialarbeit eine gewichtige Frage, die zugleich einer Standortbestimmung der aktuellen Lage als auch eines Ausblicks in die Zukunft gerade offener und verbandlicher Kinder- und Jugendarbeit diente und allen Veranstaltungen eine Richtung vorgab. Caren Marks, die Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, betonte die Notwendigkeit, bei allen Themen auch mit jungen Menschen zu reden: Wie passen unsere Konzepte (theoretischer wie praktischer Natur) mit den Lebenswelten junger Menschen zusammen?

 

Offene Arbeit als offene Arbeit?

Ein zentraler Aspekt der Tagung war die Verzahnung wissenschaftlichen Arbeitens mit praktischer Kinder- und Jugendarbeit, wie es auch gleich im Symposium „Offen für alle – offen für bestimmte Jugendliche?“ der Fall war. Am Beispiel beeinträchtigter Jugendlicher wurde die Notwendigkeit der Thematisierung von Inklusion außerhalb von Schule und Beruf erörtert. In diesen beiden Feldern existieren eine Reihe Forschungsarbeiten und Handlungskonzepte, jedoch nicht im Bereich von Inklusion bei Freizeitangeboten. Gerade hier bestehe eine große Chance der Alltagsinklusion, weil junge Behinderte hier Peergruppen erleben können. Neben dem Thema beeinträchtiger Jugendliche wurde in diesem Symposium am Beispiel spezifischer Angebote für LSBT*Q-Jugendliche in offenen Einrichtungen deutlich, dass eine Offenheit für alle zugleich einer Sensibilisierung und Antidiskriminierungsarbeit bedarf. Hier wurde also ein sehr ganzheitliches Bild gezeichnet, das zugleich mahnt, individuelle Bedürfnisse und Schutzräume nicht zu vernachlässigen.

 

Freiräume – zeitlich und örtlich

Eine ähnliche Verzahnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und politischer Themen fand im Rahmen der Debatte „Was Kinder und Jugendliche am dringendsten brauchen: Freiräume“ statt. Zunächst hatten hier zwei Lehrbeauftragte der Katholischen Hochschule NRW, Prof. Dr. Norbert Frieters-Reermann und Prof. Dr. Verena Klomann, von zwei qualitativen Studien zu Bildungs- und Lebensräumen sowie zur offenen Kinder- und Jugendarbeit eines Landkreises berichtet, die feststellten, dass die für Kinder und Jugendliche verfügbare Zeit durchweg als „zu gering“ eingeschätzt wird. Kinder im Grundschulalter vermögen oftmals nicht über eine gedankliche Trennung von Schule und Freizeit. Bei den Kindern und Jugendlichen über zehn Jahren steigt darüber hinaus nicht nur die Relevanz von Peergruppen, sondern auch der Wunsch nach Selbstbestimmung. Insgesamt wurden vier Bereiche identifiziert, für welche Kinder und Jugendliche Freiräume benötigen:

  1. Freiräume für Spaß und zweckfreie Erlebnisse. Hier steht gemeinsames Tun auf freiwilliger Basis nach den eigenen Interessen und mit Freunden im Mittelpunkt.
  2. Freiräume fürs Lernen: Sie suchen nach neuen Erfahrungen, sind offen für Unbekanntes und wollen sich (spielerisch/sportlich) mit anderen messen.
  3. Freiräume zum Rückzug: Kinder und Jugendliche brauchen Rückzugsorte vor Lärm und Geschwistern, sogenannte Wohlfühlorte und Aktivitäten zum Ausgleich
  4. Freiräume zu Selbstbestimmung und Teilhabe: Sie sollen befähigt werden, sich einbringen zu können. Hierzu sollen den Forschern zufolge pädagogische Mitarbeitende als Impulsgebende dienen.

Die Sozialwissenschaftler folgern hieraus mehrere Handlungsempfehlungen, von denen mehrere im Kern wiedergegeben werden: In der Kinder- und Jugendarbeit solle eine Offenheit für alle jungen Menschen gegeben sein, insbesondere für diejenigen, deren Bedürfnisse in anderen Lebensbereichen nicht gedeckt sind. Darüber hinaus sollten sich nonformale (Bildungs-)Angebote als Gegenpart zu den leistungsorientierten Angeboten, wie sie sich in Schule abbilden, positionieren. Schließlich brauche es altersspezifische, diversitätssensible und gegenwartsbezogene Angebote in jedweder Form der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Nach diesem Vortrag stellte Sarah Primus als Vorsitzende des LJR NRW und des BDKJ NRW das vom LJR initiierte landesweite „Bündnis für Freiräume“ vor, welches aus den Beobachtungen in der verbandlichen Jugendarbeit der vergangenen Jahre heraus (keine Zeit mehr, keine Räume mehr) Ideen und Forderungen für eine entschleunigte und weniger leistungsorientierte Gesellschaft entwickelt hat. Dabei liegt die Ausrichtung nicht allein auf einer Werbung für Jugendverbände, sondern erst einmal in der Grundannahme, auch zweckfreie freie Zeit sei notwendig. Freiraum sei kein Leerraum.  Das Bündnis hat landesweit mittlerweile eine breite Unterstützung auch aus dem Bereich des Verbandes der Kinderärzte sowie von politischen Funktionsträgern wie von der Landtagsvorsitzenden Carina Gödecke. Mittels dieses Bündnisses sollen mehr zeitliche wie lokale Freiräume für Kinder und Jugendliche geschaffen werden. Das Bündnis will dem „Zwangsraum Schule“ eine auf Freiwilligkeit basierende Zeitgestaltung entgegensetzen.

Interessanterweise sind die Forschungsergebnisse teils noch radikaler und weitergehend als die auf subjektiven Beobachtungen begründeten Forderungen des Bündnisses für Freiräume. In der Diskussion entfaltete sich die These eines norddeutschen Kollegen, Demokratierziehung könne nicht in der Schule, sondern nur durch Jugendarbeit gelingen. Zudem ergab sich als weitere Zielrichtung der Wunsch nach einem gesamtgesellschaftlichen Umdenken in Hinsicht auf Leistungsorientierung und freier, selbstbestimmter Entfaltung junger Menschen.

 

Religion in der Kinder- und Jugendarbeit – ein Thema!

Schließlich erhielt auch das Thema Religion auf dem Fachkongress ein explizites Forum. Auch die Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der DBK war in Person von Paul Metzlaff mit einem Referenten vertreten. Zu den zentralen Ergebnissen und Impulsen dieses Forums gehört die Feststellung, dass religiöse Fragen bei Kindern und Jugendlichen interessant und unvermeidbar sind, jedoch oftmals in anderer Form erarbeitet werden, als man es gemeinhin erwarten würde. Dementsprechend müssen für ein genaues Hinsehen und fachlich adäquates Begleiten dieser Fragen entsprechende Rahmen geschaffen werden, Räume geboten werden und entsprechende personale Beziehungen hergestellt und gepflegt werden. Weiterhin wurde für einen Ansatz an konkreten Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen plädiert. Religiöse Bildung bestehe insbesondere im Ernstnehmen geschilderter Erlebnisse und in ihrem fachgerechten Aufgreifen und Aufbereiten. Hier gelte es auch, einerseits Antworten auf Fragen anzubieten, gleichzeitig aber auch die richtigen Fragen zu stellen.

 

Fazit: Repolitisierung und Bildungsarbeit

Zum Abschlusstag des Fachkongresses wurde noch einmal deutlich, wie wichtig eine Repolitisierung der Jugendarbeit erforderlich ist. Im Sinne Adornos, der Demokratie dann als solche sieht, wenn Menschen sie als ihre eigene Sache erfahren und sich selbst als Subjekte des politischen Prozesses verstehen, brauche Bildungsarbeit partizipatorische Erfahrungen. Demokratie lebt von der Möglichkeit der Beteiligung aller, hierzu sei aber ein demokratisches Mindestmaß erforderlich, um jeder Person die Fähigkeit zur politischen Mitbestimmung zusichern zu können. Prof. Dr. Heinz Strünker von der Bergischen Universität Wuppertal führte dies auf den Punkt, dass eine soziale Arbeit immer eine Bildungsarbeit bedeute.

 

 2. Impulse

Mitzunehmen aus dem Kongress ist – neben dem umfangreichen informellen fachlichen Austausch – die Erkenntnis, dass politische Arbeit auch in der jugendpastoralen Arbeit im Bistum Magdeburg als Bildungsträger einen Platz haben muss. Gerade in unserer Region brauchen junge Menschen Beteiligungsmöglichkeiten auf politischen Ebenen. Demokratie braucht entsprechende Bildungsarbeit. Dies kann eine Antwort auf die Eingangsfrage des Kongresses sein, welche Kinder- und Jugendarbeit unsere gegenwärtige Gesellschaft braucht. Wir haben sowohl in den Gemeindegruppen als auch in den katholischen Jugendverbänden im Bistum eine Vielzahl engagierter Jugendlicher, diese gilt es noch stärker als Experten ihrer eigenen Lebenswelt zu begreifen und zu beteiligen. Als pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind wir auch soziale Arbeiterinnen und Arbeiter und sollten damit motivierend, unterstützend und impulsgebend an der Seite junger Menschen stehen. Dieser Ansatz ermöglicht es uns, tatsächlich offen für alle jungen Menschen gleich ihrer Herkunft und Religion sein zu können und trotzdem unsere Botschaft und unseren Auftrag als kirchliche Mitarbeitende leben zu können. In der Abschlussveranstaltung fiel mehrfach der Begriff der Haltung, dieser lässt sich wunderbar auf dieses Verständnis katholischer Kinder- und Jugendarbeit anwenden: Berufen vom Heiligen Geist mit einer Offenheit für alle Kinder und Jugendlichen arbeiten, insbesondere mit jenen, deren Bedürfnisse in anderen Lebensbereichen nicht gedeckt sind. Ganz nach Baden-Powell auf die Bedürfnisse des Kindes zu schauen, wird unserem Motto gerecht: Um Gottes und der Menschen willen.

Zurück zur Monitoransicht