#_mitten_drin – Juni 2021

22.06.2021

Großmutters Haus 

Vor Kurzem habe ich mich mit einer sehr guten Freundin verabredet, die ich lange nicht gesehen habe. Wir hatten einen schönen Nachmittag mit Eiskaffee und Sonnenschein – und dies tatsächlich im Außenbereich eines Cafés. Wir erzählten uns, wie es uns in der letzten Zeit ergangen ist und stellten fest, dass wir – trotz einiger Einschränkungen - insgesamt eine gute Zeit hatten. 

An einer Stelle wurde meine Freundin plötzlich sentimental. Sie erzählte mir, dass das Haus ihrer Großmutter, die vor einem Jahr gestorben ist, verkauft werden soll. Niemand aus der Familie hätte Interesse oder die Möglichkeitdas – weit entfernte und am Rande eines Dorfes idyllisch gelegene - Haus zu übernehmen. Und das Haus für den jährlichen, zweiwöchigen Sommerurlaub zu behalten, wäre schön, aber nicht umsetzbar. 

Als feststand, dass das Haus verkauft werden sollte, musste mein Freundin plötzlich an die vielen schönen Momente denken, die sie mit ihrer Großmutter in dem Haus verbracht hat. Sie konnte förmlich die Eierkuchen schmecken, die ihre Oma ihr als Kind bei jedem Besuch zubereitet hat, konnte die Blumen im Garten riechen, die ihre Oma liebevoll hegte und pflegte und sie musste an das Lachen beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel denken, wenn ihre Oma sie immer wieder unauffällig gewinnen ließ. Meiner Freundin wurde schmerzlich bewusst, dass es all diese Momente nie wieder geben würde. Und dass sie mit dem Hausverkauf ein weiteres Stück ihrer Großmutter würde abgeben müssen. “Ich wünschte mir, ich hätte all diese Momente bewusster gelebt”, fasst sie abschließend zusammen. Wir beide müssen daran denken, dass man häufiger Sätze liest, die einen auffordern, jeden Tag bewusst zu leben oder so zu leben, als ob man wisse, dass es der letzte Lebenstag sei. Und wir stellten beide fest, dass uns diese Sätze gut bekannt sind, aber nach dem Lesen schnell vergessen sind. Wir nahmen uns vor, in diesem Moment einen Anfang zu setzen. Unser heutiges Treffen, mit den persönlichen Gesprächen, in dem wir als Freundinnen über alles reden und uns miteinander freuen und uns gegenseitig trösten konnten, haben wir bewusst erlebt. Und es bleibt uns in stärkender Erinnerung, bis wir uns – hoffentlich bald – wiedersehen.  /BR

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